Der überlastete gesetzliche Richter – und die Änderung der Spruchkörperzuständigkeit

Aus der Garantie des gesetzlichen Richters in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG folgt, dass Regelungen, die der Bestimmung des gesetzlichen Richters dienen, im Voraus so eindeutig wie möglich festlegen müssen, welcher Richter zur Entscheidung im Einzelfall berufen ist. Auch die die gesetzlichen Bestimmungen ergänzenden Regelungen in den Geschäftsverteilungsplänen der Gerichte müssen im Voraus generellabstrakt die Zuständigkeit der Spruchkörper festschreiben, damit die einzelne Sache „blindlings“ aufgrund allgemeiner, vorab festgelegter Merkmale an den entscheidenden Richter gelangt und so der Verdacht einer Manipulation der rechtsprechenden Gewalt ausgeschlossen wird1.

Der überlastete gesetzliche Richter – und die Änderung der Spruchkörperzuständigkeit

Das Gebot, den zur Entscheidung berufenen Richter so eindeutig wie möglich im Voraus zu bestimmen, schließt eine Änderung des Geschäftsverteilungsplans im laufenden Geschäftsjahr indes nicht aus. Gemäß § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG darf das Präsidium die nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift getroffenen Anordnungen im Laufe des Geschäftsjahres ändern, wenn dies etwa wegen Überlastung eines Spruchkörpers nötig wird. Eine nachträgliche Änderung der Geschäftsverteilung kann nicht nur zulässig, sondern verfassungsrechtlich geboten sein, wenn nur auf diese Weise die Gewährung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit, insbesondere eine beschleunigte Behandlung von Strafsachen, erreicht werden kann. Das Beschleunigungsgebot lässt indes das Recht auf den gesetzlichen Richter nicht vollständig zurücktreten. Vielmehr besteht Anspruch auf eine zügige Entscheidung durch diesen. Daher muss in derartigen Fällen das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter mit dem rechtsstaatlichen Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden2.

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Nach diesen Maßstäben steht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einer Änderung des zuständigen Spruchkörpers auch für bereits anhängige Verfahren jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Neuregelung generell gilt, also etwa außer mehreren anhängigen Verfahren auch eine unbestimmte Vielzahl künftiger, gleichartiger Fälle erfasst, und nicht aus sachwidrigen Gründen geschieht. In Ausnahmefällen kann sogar eine Änderung des Geschäftsverteilungsplans zulässig sein, die ausschließlich bereits anhängige Verfahren überträgt, wenn nur so dem verfassungs- und konventionsrechtlichen Beschleunigungsgebot insbesondere in Haftsachen (siehe Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) angemessen Rechnung getragen werden kann3. In diesen Fällen kann auf eine Erstreckung der Regelung auf künftig eingehende Verfahren ausnahmsweise dann verzichtet werden, wenn eine weiterreichende Umverteilung nur dazu dienen würde, die Abstraktheit der neuen Geschäftsverteilung zu dokumentieren4.

Gleichgültig, ob ausschließlich anhängige Verfahren oder daneben auch zukünftig eingehende Verfahren umverteilt werden, muss jede Umverteilung während des laufenden Geschäftsjahres, die bereits anhängige Verfahren erfasst, geeignet sein, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen. Änderungen der Geschäftsverteilung, die hierzu nicht geeignet sind, können vor Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG keinen Bestand haben5. Dass der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.03.20096, wonach ausnahmsweise auch eine Zuweisung ausschließlich anhängiger Verfahren mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in Einklang stehen kann, auf dieses letztgenannte Erfordernis verzichten wollte, ist nicht ersichtlich. Zwar findet es in dieser Entscheidung keine Erwähnung. Doch stand in dem dort entschiedenen Fall die Eignung der angegriffenen Maßnahme zur Wiederherstellung der Effizienz des Geschäftsablaufs erkennbar nicht in Frage. Zudem wurde bereits in dem vorangegangenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16.02.20057 – gestützt auf vorangegangene BGH-Entscheidungen – die Wiederherstellung der Effizienz als eine in jedem Fall zu beachtende Voraussetzung für die Zulässigkeit der Umverteilung von Verfahren im laufenden Geschäftsjahr formuliert. Einfachrechtlich folgt dieses Erfordernis aus § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG, da Änderungen der Geschäftsverteilung, die nicht der Erhaltung oder Wiederherstellung der Effizienz eines Spruchkörpers dienen, nicht im Sinne dieser Vorschrift nötig sind8.

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Da eine Überleitung bereits anhängiger Verfahren, bei denen schon eine anderweitige Zuständigkeit konkretisiert und begründet war, in die Zuständigkeit eines anderen Spruchkörpers erhebliche Gefahren für das verfassungs- rechtliche Gebot des gesetzlichen Richters in sich birgt, bedarf es in solchen Fällen zudem einer umfassenden Dokumentation und Darlegung der Gründe, die eine derartige Umverteilung erfordern und rechtfertigen, um den Anschein einer willkürlichen Zuständigkeitsverschiebung auszuschließen9. 12 Ob ein Präsidiumsbeschluss den genannten Anforderungen entspricht, unterliegt der vollen Überprüfung durch das Revisionsgericht. Denn von Verfassungs wegen sind Regelungen der Zuständigkeit, anders als deren Anwendung, nicht lediglich am Maßstab der Willkür, sondern auf jede Rechtswidrigkeit hin zu überprüfen10.

Im hier entschiedenen Fall wurde der Präsidiumsbeschluss den genannten Anforderungen nicht gerecht: Das Präsidium hat ein einziges Verfahren, das in die Zuständigkeit des 6. Strafsenats fiel, dem 5. Strafsenat übertragen. Weitere Entlastungs- maßnahmen hat es nicht vorgenommen. Gründe für einen Verzicht auf eine abstrakte Erstreckung der Zuständigkeitsänderung über das gegenständliche Verfahren hinaus werden nicht genannt. Der erste Präsidiumsbeschluss wurde zu Beginn des Geschäftsjahres 2013 und damit nur wenige Wochen nach Inkrafttreten des auf dieses Jahr angelegten Geschäftsverteilungsplanes des Oberlandesgerichts gefasst. Bereits zu diesem Zeitpunkt sah sich der 6. Strafsenat auf unbestimmte Zeit hinaus als überlastet an. Auch noch bei Erlass des „nachgebesserten“ Präsidiumsbeschlusses am 16.03.2013, der ohnehin nur die Gründe des Ursprungsbeschlusses hätte präzisieren, nicht indes etwa nachträglich eingetretene Umstände als zusätzliche Begründungselemente hätte nachschieben können, bestand die Erwartung, dass der 6. Strafsenat keinesfalls vor September 2013 ein weiteres Verfahren würde bearbeiten können. Dennoch verzichtete das Präsidium auf eine Umverteilung über den vorliegenden Fall hinaus. Auch ein Gesamtkonzept zum Belastungsausgleich11 kann der Präsidiumsentscheidung nicht entnommen werden. Es ist deshalb nicht ersichtlich, weshalb die Übertragung allein des vorliegenden Verfahrens auf einen anderen Bundesgerichtshof der Überlastung des 6. Strafsenats für das Geschäftsjahr 2013 entgegenzuwirken geeignet sein sollte. Dem steht auch nicht entgegen, dass erfahrungsgemäß in Staatsschutzsachen nur wenige Verfahren eingehen. Denn dies schloss nicht aus, dass bereits zeitnah nach dem Präsidiumsbeschluss ein weiteres – und als Haftsache möglicherweise eilbedürftiges Verfahren – anhängig werden würde. Dieses hätte nach dem Grundkonzept der Präsidiumsentscheidung wiederum im Wege der Einzelzuweisung einem anderen Strafsenat zugeteilt werden müssen. Eine derartige Handhabung ist mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmung des gesetzlichen Richters indes nicht mehr in Einklang zu bringen.

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Nach alledem konnte es hier für den Bundesgerichtshof dahinstehen, ob überhaupt Fälle denkbar sind, in denen eine spezielle Zuweisung eines einzigen bestimmten Verfahrens vor Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG überhaupt Bestand haben kann.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12. Mai 2015 – 3 StR 569/14

  1. BVerfG, Beschluss vom 08.04.1997 – 1 PBvU 1/95, BVerfGE 95, 322, 329[]
  2. BVerfG, Beschluss vom 18.03.2009 – 2 BvR 229/09, NJW 2009, 1734; BGH, Urteil vom 09.04.2009 – 3 StR 376/08, BGHSt 53, 268, 271; Beschlüsse vom 04.08.2009 – 3 StR 174/09, StV 2010, 294, 295; vom 10.07.2013 – 2 StR 116/13, NStZ 2014, 226, 227; vom 07.01.2014 – 5 StR 613/13, NStZ 2014, 287, 288; vom 25.03.2015 – 5 StR 70/15[]
  3. BVerfG, noch offengelassen BVerfG, Beschluss vom 16.02.2005 – 2 BvR 581/03, NJW 2005, 2689, 2690[]
  4. BVerfG, Beschluss vom 18.03.2009 – 2 BvR 229/09, NJW 2009, 1734, 1735[]
  5. BVerfG, Beschluss vom 16.02.2005 – 2 BvR 581/03, NJW 2005, 2689, 2690; BGH, Urteil vom 09.04.2009 – 3 StR 376/08, BGHSt 53, 268, 272; Beschlüsse vom 04.08.2009 – 3 StR 174/09, StV 2010, 294, 295; vom 10.07.2013 – 2 StR 116/13, NStZ 2014, 226, 227[]
  6. BVerfG, Beschluss vom 18.03.2009 – 2 BvR 229/09, NJW 2009, 1734[]
  7. BVerfG, Beschluss vom 16.02.2005 – 2 BvR 581/03, NJW 2005, 2689[]
  8. BGH, Beschlüsse vom 04.08.2009 – 3 StR 174/09, StV 2010, 294, 295; vom 10.07.2013 – 2 StR 116/13, NStZ 2014, 226, 227; vom 07.01.2014 – 5 StR 613/13, NStZ 2014, 287, 288[]
  9. BGH, Urteil vom 09.04.2009 – 3 StR 376/08, BGHSt 53, 268, 273 mwN[]
  10. BVerfG, Beschluss vom 16.02.2005 – 2 BvR 581/03, NJW 2005, 2689, 2690; BGH, Urteil vom 09.04.2009 – 3 StR 376/08, BGHSt 53, 268, 275 f.; Beschluss vom 04.08.2009 – 3 StR 174/09, StV 2010, 294, 295[]
  11. vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.03.2009 – 2 BvR 229/09, NJW 2009, 1734, 1735[]
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