Aussagefreiheit – und ihre Verletzung außerhalb von Vernehmungen

Die Verletzung der Aussagefreiheit kann auch außerhalb von Vernehmungen nach §§ 136, 136a StPO zu einem Beweisverwertungsverbot führen.

Aussagefreiheit – und ihre Verletzung außerhalb von Vernehmungen

Eine Vernehmung liegt nur dann vor, wenn der Vernehmende dem Beschuldigten in amtlicher Funktion gegenübertritt und in dieser Eigenschaft von ihm Auskunft verlangt1.

Die Aussagefreiheit des Beschuldigten und das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung (nemo tenetur se ipsum accusare) sind notwendiger Ausdruck einer auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhenden rechtsstaatlichen Grundhaltung2. Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ist im Rechtsstaatsprinzip verankert und hat Verfassungsrang3. Er umfasst das Recht auf Aussage- und Entschließungsfreiheit innerhalb des Strafverfahrens4.

Dazu gehört, dass im Rahmen des Strafverfahrens niemand gezwungen werden darf, sich durch seine eigene Aussage einer Straftat zu bezichtigen oder zu seiner Überführung aktiv beizutragen5. Der Beschuldigte muss frei von Zwang eigenverantwortlich entscheiden können, ob und gegebenenfalls inwieweit er im Strafverfahren mitwirkt6.

Eine solche eigenverantwortliche Entscheidung war in dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall einer Brandstiftung bei der Angeklagten R. nicht gegeben. Dies ergibt hier eine Gesamtbewertung der Vorgänge um die Zuführung der Angeklagten zu dem Arzt D. und die dort stattgefundene Untersuchung. Dabei ist entscheidend, dass sich die Angeklagte nach der ersten Belehrung im ununterbrochenen polizeilichen Gewahrsam befand, in dem zu keinem Zeitpunkt auf ihr Recht zu Schweigen Rücksicht genommen wurde. Letztlich war sie auf diese Weise einer dauerhaften Befragung ausgesetzt. Das begann schon während des Transports der Angeklagten zum Arzt. Dabei lenkte die Polizeibeamtin KHMin K. immer wieder das Gespräch auf die Tat, ebenso wie auch im Wartebereich vor dem Arztzimmer. Die Angeklagte hatte zuvor ausdrücklich von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Sie war – weshalb sie ja einem Arzt vorgestellt werden musste – in einer gesundheitlich sehr angeschlagenen Verfassung. Sie hatte eine Überdosis Psychopharmaka zu sich genommen und befand sich bei deutlich erhöhter Pulsfrequenz in der Angst, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. Schon diese prekäre gesundheitliche Verfassung der dezidiert nicht aussagebereiten Angeklagten R. verbot weitere Fragen. Dies gilt umso mehr als die Angeklagte R. – wie sich aus ihrer Frage „sind Sie Ärztin“ ergibt – sie gar nicht als Kriminalbeamtin wahrgenommen hat.

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Weiterhin beeinträchtigten die Gesamtumstände der ärztlichen Untersuchung die Angeklagte R. in ihrer Aussagefreiheit. Die 75jährige Ange- klagte war dringend behandlungsbedürftig. Um einen korrekten ärztlichen Befund zu erhalten, war die Angeklagte R. gezwungen, möglichst genaue Angaben zur Brandentstehung zu machen, auch wenn dies mit einer Selbstbelastung einherging. Diese Zwangssituation hat die Zeugin KHMin K. mit ihrer Anwesenheit bewusst ausgenutzt, um die entsprechenden Erkenntnisse zu erheben, gerade weil sie genau wusste, dass die Angeklagte erklärt hatte, keine Angaben gegenüber den Ermittlungsbehörden machen zu wollen.

Auch war ihre Anwesenheit bei der Untersuchung nicht deswegen erforderlich, um die Gefahr einer Flucht der Angeklagten zu unterbinden, was bereits daraus hervorgeht, dass sie nach sich und ihre Tochter belastenden Äußerungen der Angeklagten den Behandlungsraum verließ, um sich bei ihren Kollegen zu versichern, dass die Angeklagte belehrt worden war.

Dabei ist es auch unerheblich, dass die Polizeibeamtin im Behandlungszimmer die Frage gestellt hatte, ob sie hinausgehen solle, ohne allerdings irgendeine Antwort zu erhalten. Dies konnte sie nicht automatisch als Zustimmung werten, weil auch die Möglichkeit bestand, dass die Frage weder vom Arzt noch der Angeklagten gehört worden war, zumal die Zeugin aus dem Vorgeschehen entnehmen musste, dass die bereits ältere Angeklagte in ihrer Orientierung offensichtlich beeinträchtigt war. Jedenfalls hätte die Zeugin bei dieser Sachlage sicherstellen müssen, dass ihre Frage trotz Ausbleibens einer Antwort Gehör gefunden hatte, was aber nicht erfolgt ist.

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Danach kann es dahinstehen, ob das Arzt-Patienten-Gespräch wie im vorliegenden Fall nicht ohnehin einem absoluten Verwertungsverbot wegen einer Verletzung des Kernbereichsschutzes unterliegt7. Ist der Kernbereich betroffen, sind Ermittlungsmaßnahmen unzulässig8. Einen derartigen Schutz haben sowohl der Gesetzgeber als auch das Bundesverfassungsgericht im Falle von Arztgesprächen ausdrücklich für möglich gehalten9. Näherer Vertiefung bedarf hier diese Frage indes nicht, weil bereits wegen des Verstoßes gegen die Aussagefreiheit ein Beweisverwertungsverbot besteht.

In Bezug auf die der ärztlichen Untersuchung nachfolgenden Gespräche der KHMin K. am Krankenbett, bestehen grundsätzlich keine rechtlichen Bedenken gegen deren Verwertbarkeit, da die Angeklagte R. selbst die Zeugin hat rufen lassen, um von ihr Näheres zum Gesund- heitszustand ihrer Tochter zu erfahren, und dann von sich aus einige Details zur Brandlegung erzählte, so dass insoweit ihr Schweigerecht von den Ermittlungsbehörden respektiert wurde. Allerdings hat das Landgericht seine Überzeugung von der Täterschaft beider Angeklagter neben den Äußerungen am Krankenbett und bei der Fahrt zum Ermittlungsrichter gegenüber KHK F. gerade auch auf ihre Angaben während der ärztlichen Untersuchung gestützt, so dass der Bundesgerichtshof nicht ausschließen kann, dass der Tatrichter abweichende Feststellungen getroffen hätte, wenn er diese Angaben nicht in seine Gesamtschau aufgenommen hätte, zumal diese nahezu einem Geständnis gleichkommen.

Der Bundesgerichtshof kann daher auch dahin stehen lassen, ob die Belehrung durch KHK F. am darauffolgenden Tag ausreichend war, oder er ange- sichts der unverwertbaren Erkenntnisse anlässlich der ärztlichen Untersuchung nicht eine qualifizierte Belehrung hätte erteilen müssen, durch welche die Angeklagte R. darüber in Kenntnis gesetzt worden wäre, dass die von ihr gegenüber dem behandelnden Arzt D. gemachten Äußerungen grund- sätzlich unverwertbar sind. Insoweit kann der Bundesgerichtshof nicht beurteilen, ob sie auch dann die fraglichen Mitteilungen gegenüber dem Zeugen KHK F. getätigt hätte, wenn ihr die Unverwertbarkeit der gegenüber dem Arzt gemachten Angaben bewusst gewesen wären. Jedenfalls gilt auch insoweit, dass der Bundesgerichtshof keine Feststellungen treffen kann, ob – eine Verwertbarkeit unterstellt – die Angaben gegenüber KHK F. ohne die Angaben gegenüber D. dem Tatrichter eine ausreichende Überzeugung von der Täterschaft der Angeklagten vermittelt hätten.

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Wegen seiner Absolutheit entfaltet dieses Beweisverwertungsverbot seine Wirkung auch auf die von den Eingriffen in die Aussagefreiheit der Mitangeklagten nicht unmittelbar betroffene Angeklagte M. . Dies gilt hier in besonderem Maße, weil die Angeklagte R. gegenüber ihrer Tochter zudem ein Zeugnisverweigerungsrecht gehabt hätte10, in dessen Ausübung mittelbar gleichfalls eingegriffen wurde.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 6. März 2018 – – 1 StR 277/17

  1. BGH, Beschluss vom 13.05.1996 – GSSt 1/96 Rn. 21, BGHSt 42, 139, 145 f.[]
  2. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 08.10.1974 – 2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105, 113; vom 22.10.1980 – 2 BvR 1172/79, BVerfGE 55, 144, 150 f.; und vom 13.01.1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 43[]
  3. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 08.10.1974 – 2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105, 113; vom 22.10.1980 – 2 BvR 1172/79, BVerfGE 55, 144, 150; vom 13.01.1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 43; und vom 14.01.2004 – 2 BvR 564/95, BVerfGE 110, 1, 31[]
  4. BVerfG, Beschluss vom 25.08.2014 – 2 BvR 2048/13, NJW 2014, 3506 f. Rn.13[]
  5. vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.01.1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 49; Urteil vom 03.03.2004 – 1 BvR 2378/98, BVerfGE 109, 279, 324[]
  6. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 08.10.1974 – 2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105, 113; und vom 13.01.1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 43; BGH, Urteil vom 26.07.2007 – 3 StR 104/07, BGHSt 52, 11, 17 ff. Rn.20, 26 f.[]
  7. vgl. BGH, Urteile vom 10.08.2005 – 1 StR 140/05 Rn. 15, BGHSt 50, 206, 210; und vom 22.12 2011 – 2 StR 509/10, BGHSt 57, 71, 74 ff. Rn. 13 ff.[]
  8. BVerfG, Beschluss vom 12.10.2011 – 2 BvR 236/08 Rn. 265, BVerfGE 129, 208, 265 f.; Urteil vom 03.03.2004 – 1 BvR 2378/98 Rn. 152, BVerfGE 109, 279, 322 f.; vgl. auch BT-Drs. 16/5846, S. 36 f.[]
  9. BVerfG, Beschluss vom 12.10.2011 – 2 BvR 236/08 Rn. 265, BVerfGE 129, 208, 265 f.; vgl. auch BT-Drs. 16/5846, S. 36 f.[]
  10. vgl. hierzu auch BGH, Beschluss vom 15.12 1987 – 5 StR 649/87, BGHR StPO § 52 Abs. 1 Nr. 3 Mitbeschuldigter 3[]
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